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Cannabis bei Krebs – Berechtigter Einsatz in der Schmerztherapie?

Seit März 2017 dürfen in Deutschland gesetzlich cannabisbasierte Arzneimittel und medizinisches Cannabis verschrieben werden. Durch die Festlegung des Gesetzgebers werden die Kosten nach Prüfung eines Antrags auf Genehmigung durch die Krankenkassen übernommen. Die Anträge dürfen nur in begründeten Ausnahmefällen abgelehnt werden. Seit dieser Änderung erfolgte die Verordnung von Cannabis hauptsächlich bei chronischen Schmerzen (60-70%).

Teilweise wird, besonders in sozialen Medien, von einer möglichen Krebsheilung durch Cannabis berichtet. „Studien die dazu existieren, sind nur Zellexperimente, in denen Cannabinoide lediglich das Wachstum von Tumorzellen gehemmt haben. Sie haben keinerlei Aussagekraft für die menschliche Situation“, erläutert Jutta Hübner, Professorin für Integrative Onkologie vom Uniklinikum in Jena. Trotz des breiten öffentlichen Interesses herrscht durch fehlende anerkannte Leitlinien eine gewisse Unsicherheit bei Patient*innen und Mediziner*innen. So gehört zu den typischen Fragen, wer diese Arzneien verschreiben und verschrieben bekommen darf, wie aktuelle klinische Studiendaten zu interpretieren sind und wie die Verschreibung im Praxisalltag tatsächlich aussieht.

Für wen kommt Cannabis in Frage?

Laut Gesetz kann eine Versorgung mit Cannabis bei schwerkranken Personen erfolgen, bei denen

  • eine allgemein anerkannte Leistung nicht zur Verfügung steht oder nach begründeter Einschätzung im Einzelfall nicht geeignet ist,
  • die Annahme auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Verlauf oder Symptome einer Krankheit besteht.


Das heißt, anders als sonst in der Medizin, spielt im Cannabis-Gesetz das Einsatzgebiet - beispielsweise eine bestimmte Erkrankung - keine Rolle. Durch diese Entwicklungen der letzten Jahre rückt ein geregelter Zulassungsprozess für bestimmte Einsatzgebiete auch eher in die Ferne.  Nach dem Gesetz ist eine studienbasierte Bewertung nicht notwendig, der Einsatz von Cannabis als individueller Heilversuch erfolgt in ärztlicher Abwägung und Verantwortung. Positive Effekte zeigte Cannabis bisher in Studien zur Therapie von Spastiken bei Multipler Sklerose, bei Übelkeit und Erbrechen während einer Chemotherapie und bei der Bekämpfung von Appetitlosigkeit bei HIV/AIDS-Patient*innen.

Die Vorgehensweise zur Bewilligung der Kostenübernahme ist insofern besonders, als dass Patient*innen – anders als bei der Verschreibung von anderen Medikamenten – vor der ersten Einlösung eines Cannabisrezeptes bei den Krankenkassen einen entsprechenden Antrag stellen und den Entscheid über den Antrag abwarten müssen. Die Krankenkasse ist jedoch dazu verpflichtet, binnen drei Wochen zu antworten. Dieses Verfahren muss unbedingt eingehalten werden, da sonst eine Verweigerung der Kostenübernahme möglich ist. Bei schwer kranken Menschen wird dieser Prozess auf drei Tage beschleunigt. Auch sollte den Patient*innen bewusst sein, dass behandelnde Ärzte*innen gesetzlich dazu verpflichtet ist, die anonymisierten Daten des Patient*innen an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte weiterzuleiten, weil diese zur Markbeobachtung im Rahmen einer Cannabis-Begleiterhebung erfasst und ausgewertet werden sollen.

In welcher Form wird Cannabis verabreicht?

Hanfpflanzen
Quelle: © stokkete - fotolia.com

In Deutschland können Ärzt*innen seit 2017 die Fertigarzneimittel Dronabinol, Nabiximols oder Nabilon auch unabhängig von ihren eigentlichen Zulassungen, wie z.B. die Behandlung von Spastiken bei Multipler Sklerose oder bei Übelkeit und Erbrechen während einer Chemotherapie, verschreiben. Außerdem können Cannabisblüten und standardisierte Cannabisextrakte verordnet werden. Vom Einsatz der Blüten wird allerdings eher abgeraten, da die Wirkstoffkonzentration von Mischung zu Mischung der Blüten unterschiedlich und auch durch die Art der Anwendung (z.B. Rauchen, Backen etc.) beeinflusst werden kann. Des Weiteren können Verunreinigungen vorliegen und Überdosierungen auftreten. Cannabisextrakte werden häufig in Form von öligen Tropfenlösungen, Kapseln oder alkoholischen Inhalationslösungen verschrieben.

Wie wirkt Cannabis?

Die medizinisch gewünschten Effekte von Cannabis sind vermutlich auf die beiden Wirkstoffe THC (Tetrahydrocannabinol) und CBD (Cannabidiol) zurückzuführen. Sie gehören zur Gruppe der Cannabinoide, die über 100 bekannte Wirkstoffe umfasst. Für THC und/oder CBD werden die folgenden Effekte diskutiert: Sie sollen Schmerzen lindern (analgetische Effekte), die Psyche beeinflussen (psychoaktive Effekte), den Brechreiz lindern (antiemetische Effekte), den Appetit anregen, das Risiko für Krampfanfälle reduzieren (antikonvulsive Effekte), Nervenzellen und Nervengewebe schützen (neuroprotektive Effekte) sowie muskelentspannend (muskelrelaxierend), gegen psychische Erkrankungen (antipsychotisch) und angstlösend wirken.

Die Stoffe liegen in Form von organischen Säuren in der Pflanze vor, die für die medizinische Anwendung zunächst durch Hitze in wirksame Formen umgewandelt werden müssen. Das geschieht beispielsweise beim Rauchen oder Verdampfen. Die Wirkung der Cannabinoide entfaltet sich durch die Bindung an die so genannten Cannabinoidrezeptoren im zentralen Nervensystem.

Es gibt Hinweise, dass sich womöglich die Wirkungen von THC und CBD sowie die, der ebenfalls in der Pflanze enthaltenen, Terpeniode gegenseitig verstärken könnten, wenn sie gemeinsam angewendet werden. Ein wissenschaftlicher Nachweis für diese Synergien steht allerdings noch aus.

Welche Nebenwirkungen und Wechselwirkungen können auftreten?

Abhängig von der Verabreichungsform und der Inhaltsstoffe können bei der Anwendung von Cannabis und cannabisbasierten Medikamenten jedoch auch Nebenwirkungen auftreten. Hierbei gibt es akute und langanhaltende unerwünschte Wirkungen. Vor allem das zentrale Nervensystem und die Psyche sind davon betroffen. Es kann zu Schwindel, Übelkeit oder Müdigkeit kommen. „Gerade bei schwerkranken Patienten kann das auch zu einer erhöhten Sturzgefahr beitragen“, wie Prof. Hübner erklärt. Die größte Gefahr bei der Behandlung mit Cannabinoiden sieht Prof. Hübner je nach Substanz in einer nicht zu unterschätzenden, möglichen Drogenabhängigkeit mit typischen Entzugssymptomen.

CBD verfügt vermutlich zwar nicht über die THC-typischen psychischen Effekte, und wird daher nicht von den entsprechenden Nebenwirkungen begleitet. Jedoch ist die Studienlage zum alleinigen Einsatz von CBD in der Medizin noch unzureichend, da bisherige Studien zumeist THC oder eine Kombination beider Wirkstoffe untersucht haben.

Auch wenn die Studienlage zu THC besser ist, gibt es insgesamt bisher zu wenige Studien und damit einhergehend zu wenige Daten zum medizinischen Einsatz von Cannabis. Auch die Wechselwirkungen zwischen Cannabinoiden bzw. Cannabis und anderen Medikamenten wurde zu wenig untersucht und berücksichtigt. THC und CBD können in der Leber durch spezielle Enzyme, Cytochrome P450 genannt, verstoffwechselt werden. Diese sind auch bei der Umwandlung von Arzneimitteln im Körper von großer Bedeutung. Wenn Medikamente denselben Stoffwechselweg nutzen, kann es zu Wechselwirkungen kommen, so dass sie sich in ihrer Wirksamkeit beeinflussen.

„Eine Absprache zwischen den behandelnden Ärzten, wie beispielsweise dem Hausarzt und dem Onkologen, ist bei einer Verschreibung von medizinischem Cannabis und cannabisbasierten Medikamenten unbedingt nötig, damit diese alle Wirkstoffe kennen, die der Patient anwendet“, klärt Prof. Hübner auf. Außerdem ermutigt Prof. Hübner Patient*innen, Nebenwirkungen während einer Behandlung oder auch nur die Angst davor direkt bei Ärzte*innen oder Pflegekräften anzusprechen und den Dialog zu suchen. Mit einem geeigneten Management lassen sich Nebenwirkungen meist ohne den Einsatz dieser Substanzen in den Griff bekommen.

Welche klinischen Erfahrungen gibt es und wie sieht die aktuelle Datenlage aus?

Das Potential und die Risiken von Cannabis wurden im Jahr 2018 im Auftrag der Bundesregierung in der wissenschaftlichen Analyse CaPRis (Cannabis: Potential und Risiken) zusammengefasst und bewertet. Für die Übersichtsarbeit hat ein Autorenteam, das aus über 30 Mitarbeitern bestand, mehr als 2.000 wissenschaftliche Studien der letzten zehn Jahre aus fünf internationalen Datenbanken gesichtet und ausgewertet.

Bei den berücksichtigten Studien standen häufig Effekte beim Einsatz von Cannabisarzneimitteln gegen chronischen Schmerzen (z.B. bei Multipler Sklerose) im Vordergrund. Dieses wurde aber in allen untersuchten Studien zusätzlich zu einer bestehenden Schmerztherapie gegeben.

Problematisch ist außerdem, dass kontrollierte Vergleiche häufig nur gegenüber einem Scheinmedikament durchgeführt wurden und nicht gegenüber Schmerzmedikamenten mit nachgewiesener schmerzlindernder Wirksamkeit. Das Autorenteam kommt daher zu dem Schluss, dass trotz einer guten wissenschaftlichen Datenlage für eine leichte Schmerzlinderung qualitativ hochwertige Studien zur Wirksamkeit von medizinischem Cannabis in der Behandlung von chronischen Schmerzen fehlen.

Eine widersprüchliche Datenlage gibt es nach den Ergebnissen der Auswertung beim Einsatz zur Verbesserung der Symptome einer Spastizität, die durch Multiple Sklerose ausgelöst wird. Hinsichtlich der Effekte von Cannabis auf Übelkeit, Erbrechen und Appetit wurde die Studienlage als veraltet und unzureichend eingestuft. Die Studien im Bereich der psychischen Störungen, Epilepsien und Psychosen bewerteten die Expert*innen als schwach.

Neues Positionspapier zur Lage in Deutschland

Eine Ad-hoc-Kommission der Deutschen Schmerzgesellschaft „Cannabis in der Medizin“ veröffentlichte 2019 ein Positionspapier zu medizinischem Cannabis und cannabisbasierten Medikamenten in der Schmerztherapie. Dabei handelt es sich um Empfehlungen für Ärzt*innen, Patient*innen und andere Beteiligte, die auf Schlussfolgerungen aus der betrachteten Studienlage und auf dem klinischen Konsens der Autor*innen beruhen. Diese kommen zu dem Schluss, dass der derzeitige Wissensstand bezüglich der Verwendung von cannabisbasierten Medikamenten bei chronischen Schmerzen und besonders beim Einsatz von medizinischem Cannabis noch unzureichend ist.

Nach Ansicht von Prof. Hübner überwiegt bei der Risiko-Nutzen-Analyse der Behandlung von chronischen Schmerzen mit medizinischem Cannabis und cannabisbasierten Medikamente derzeit u.a. durch die Neben- und Wechselwirkungen eher die Risiko-Seite. „Ausgenommen ist hierbei die palliative Situation mit einer Vielzahl und Kombination von verschiedenen Symptomen, in der die Verwendung von medizinischem Cannabis und cannabisbasierten Medikamenten durch erfahrene Mediziner begleitet wird“, räumt Prof. Hübner ein. Die Autor*innen des Positionspapieres erwarten zukünftig eine Verbesserung der Datenbasis, z.B. durch die vermehrte klinische Anwendung und die vorgeschriebene Dokumentation sowie Auswertung der Patient*innendaten.

 

Literatur

[1] Hoch E, Friemel CM, Schneider M. Cannabis- Potenzial und Risiko. Eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme. 2019.
[2] Petzke F, et al., Position paper on medical cannabis and cannabis-based medicines in pain medicine. Schmerz, 2019. 33(5): p. 449-465.
[3] Hauser W, et al., Efficacy, tolerability and safety of cannabis-based medicines for cancer pain: A systematic review with meta-analysis of randomised controlled trials. Schmerz, 2019. 33(5): p. 424-436.
[4] Gleaske G, Sauer K. Cannabis-Report, Socium - Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, Universität Bremen. 2019.
[5] Worth T. Unpicking the entourage effect. Nature, 2019. Vol. 572.

 

(akm)

Fachliche Beratung: Prof. Dr. Jutta Hübner, Jena

Letzte inhaltliche Aktualisierung am: 28.11.2022

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Zuletzt aufgerufen am: 16.04.2024 17:13