Chancen und Risiken der Früherkennung

 

Brennpunkt Onkologie vom 23.09.2014: Von der Mammografie bis zur genomischen Vollanalyse des Menschen.

Vorsorgekoloskopie und Mammografie-Screening – Kritiker bemängeln, dass die evidenzbasierte Datenlage für die gesetzlich geregelten Krebsfrüherkennungsmaßnahmen in Deutschland schwach sei; Befürworter halten dagegen, dass man trotzdem den Wunsch der Bevölkerung nach Früherkennung respektieren müsse. Ungeachtet dieser Diskussion arbeiten Unternehmen und Forscher aber bereits an neuen Ansätzen der genomischen Vollanalyse mittels DNA-Sequenzierung – unter anderem auch zur Früherkennung. Bei der Brennpunkt-Veranstaltung der Deutschen Krebsgesellschaft am 23.09.2014 diskutierten Onkologen mit Vertretern aus Politik und Unternehmen über den Stand der Krebsfrüherkennung in Deutschland.

Mammografie - überschätzter Nutzen?

Ingrid Mühlhauser, Professorin an der Universität Hamburg, sieht die gegenwärtige Praxis der Krebsfrüherkennung kritisch und verweist auf die Zahl von Überdiagnosen: Beim Mammografie-Screening kämen auf eine Frau, die weniger an Brustkrebs stirbt, fünf bis zehn Frauen mit einer Überdiagnose. Viele dieser Frauen würden behandelt, obwohl sie auch ohne Therapie zeitlebens keinen Brusttumor entwickeln. Gegen die derzeitige Screeningpraxis spräche auch die fehlende Aufklärung der Frauen. Frauen in Deutschland würden sowohl das persönliche Risiko für Brustkrebs als auch den möglichen Nutzen des Screenings erheblich überschätzen, den Schaden hingegen oft gar nicht kennen.

Überdiagnosen sind auch ein Problem beim Darmkrebsscreening – die Krankenkassen erstatten derzeit den Hämoccult-Stuhltest (ab dem 50. Lebensjahr) und die Koloskopie (ab dem 55. Lebensjahr). „Die Früherkennung zielt hier vor allem auf die Entdeckung von Adenomen, also gutartigen Veränderungen, aus denen sich nur im Ausnahmefall Krebs entwickelt. Weil nicht klar ist, welche zu Krebs führen, entfernt man sie vorsorglich alle. Das ist bei mindestens einem Drittel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fall. Ihnen werden dann meist zusätzliche Kontroll-Koloskopien empfohlen, die eine Belastung sind, ohne dass der Nutzen klar ist“, erklärt Dr. Klaus Koch, Leiter des Ressorts Gesundheitsinformation beim IQWiG.

Dennoch, so argumentiert Prof. Jürgen Riemann von der Stiftung LebensBlicke, zeige die gegenwärtige Praxis der Darmkrebsvorsorge und Früherkennung bereits Wirkung. Riemann verweist auf den kontinuierlichen Rückgang von Inzidenz und Mortalität beim Darmkrebs und plädiert für ein niederschwelliges Angebot an besseren Stuhl- oder Bluttests, die so sensitiv und spezifisch sind, „dass sie sehr zuverlässig fortgeschrittene Neoplasien und Karzinome erkennen können und eine Darmspiegelung damit in der Regel nur noch bei einer therapeutischen Indikation notwendig wird.“

Verbesserungspotenzial beim Pap-Screening?

Prof. Peter Hillemanns

Eine Erfolgsstory sei dagegen der jährliche Pap-Test zur Vermeidung von Gebärmutterhalskrebs, argumentiert Prof. Peter Hillemanns von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Der Test habe die Zervixkarzinom-Inzidenz um 60 bis 70 Prozent reduziert, nicht nur in Deutschland. Dennoch gibt es auch hier Verbesserungspotenzial: Neben der gesetzlich vorgegebenen Umstellung auf ein organisiertes Screening führen viele Länder den deutlich sensitiveren HPV-Test ein. PD Dr. Volker Schneider von der Universität Freiburg befürchtet allerdings, dass ein einmaliger HPV-Test und Screening-Intervalle von drei bis fünf Jahren ein höheres Risiko für Unterdiagnosen bergen. „Dazu kommt die Frage nach dem geeigneten Test“, sagt Schneider. „In der 2014 veröffentlichten Studie von Rebolj et al. kommen die vier zugelassenen HPV-Tests leider nur in knapp 30 Prozent zum gleichen Ergebnis.“

Genomische Vollanalysen: Chance oder Risiko?

Angesichts dieser Diskussion über das Für und Wider konventioneller Screeningmaßnahmen liegt es auf der Hand, nach besseren Möglichkeiten für eine Bestimmung des individuellen Krebsrisikos und der Suche nach optimalen Behandlungsmöglichkeiten zu suchen. Genetische Veränderungen könnten dabei den Weg weisen. Der Walldorfer IT-Konzern SAP geht neue Wege.

„Die DNA-Sequenzierung ist in den letzten Jahren deutlich günstiger und schneller geworden. Auch die anfallenden großen Datenmengen können wir mittlerweile gut verarbeiten – dank unserer in-Memory-Technologie“, erklärt SAP-Experte Dr. Werner Eberhardt. Das Unternehmen stellte sein System am Nationalen Zentrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg vor – die Forscher dort sahen darin die Chance, Sequenzdaten und klinische Befunde, auch die aus Arztbriefen, in einem Daten-Warehouse zusammenzuführen und zu analysieren.

Speichert man zusätzlich Daten über Verschreibungspraxen, Behandlungsschemata oder Nebenwirkungen, dann lässt sich ein rascher Datenabgleich durchführen – das notwendige genetische Know-how und die Softwareanwendung stammt vom SAP-Partner Molecular Health. In einem Pilot-Projekt bietet SAP zunächst seinen an Krebs erkrankten eigenen Mitarbeitern eine genomische Analyse an. Das Ergebnis wird dem behandelnden Arzt zur Verfügung gestellt, der es für seine Therapieempfehlung nutzen kann.

Genetik in der Früherkennung ‒ welche Strategie ist die richtige?

Dr. Kerstin Rhiem

Vor einem unkritischen Einsatz der Gesamzgenomsequenzierung warnt indessen Dr. Kerstin Rhiem vom Zentrum Familiärer Brust- und Eierstockkrebs des Universitätsklinikums Köln: „Warum wählt man bei dem derzeit begrenzten Potenzial an evidenzbasierten zielgerichteten Therapien diesen komplexen Weg?“ Auch der Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft, Dr. Johannes Bruns, ist überzeugt: Eine genetische Analyse macht nur dort Sinn, wo auch die entsprechenden Behandlungsstrategien zur Verfügung stehen.

Die grundsätzlichen Probleme der Risikoprädiktion auf der Basis einer Vollgenomanalyse werden am Beispiel des Brustkrebses deutlich: beim familiär bedingten Brustkrebs interagieren viele, aber selten veränderte moderate Risikogene (relatives Risiko 2-5fach) mit häufig mutierten Niedrigrisikovarianten (relatives Risiko 1,1-2fach). Daher werden derzeit polygene Risiko-Scores entwickelt, um für jede Person ein spezifisches Risiko auf einer kontinuierlichen Skala zu definieren. Aber neben der Prädiktion des Erkrankungsrisikos ist auch die des Tumorsubtyps entscheidend. Für wen kommt überhaupt wann welche Früherkennung infrage? Gibt es Karzinome mit einem intrinsisch so günstigen Verlauf, dass prophylaktische Operationen eher nicht im Vordergrund stehen? Die entsprechenden Daten können z.B. durch das Deutsche Konsortium Familiärer Brust- und Eierstockkrebs in internationalen Kooperationen erhoben werden. Rhiems Fazit: „Wir haben dringenden Regelungsbedarf und benötigen eine politische Diskussion, um zu vermeiden, dass das Ausmaß präventiver Maßnahmen an gesunden Menschen ohne Evidenzbeleg, aber mit hohen Kosten, ungeahnte Dimensionen erreicht.“

Referenten

Dr. Johannes Bruns (Deutsche Krebsgesellschaft e.V., Berlin); Dr. Werner Eberhardt (Chief Health Platform Expert der SAP AG; Walldorf); Prof. Dr. Peter Hillemanns (Medizinische Hochschule Hannover); Dr. rer. medic. Klaus Koch (IQWiG, Köln); Prof. Dr. Ingrid Mühlhauser (Uniklinik Hamburg); PD Dr. Kerstin Rhiem (Universität Köln); Prof. Dr. Jürgen F. Riemann (Stiftung LebensBlicke, Ludwigshafen), PD Dr. Volker Schneider (Facharzt für Pathologie, Freiburg); Moderation: Thomas Hegemann.

Die Präsentationen von Prof. Dr. Peter Hillemanns und PD Dr. Volker Schneider erhalten Sie auf Anfrage an presse@krebsgesellschaft.de.

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