Therapiefaktor Wohnort

 

Brennpunkt Onkologie vom 20.04.2016: Therapiefaktor Wohnort – die Tücken der Versorgungslandschaft in der Onkologie

Eigentlich sollte der Versicherte davon ausgehen, dass er als onkologischer Patient überall nach dem gleichen medizinischen Standard behandelt wird — unabhängig von seinem Wohnort. Das ist jedoch aus unterschiedlichen Gründen nicht der Fall. So hat der Gesetzgeber in der Vergangenheit verschiedene Möglichkeiten zur Gestaltung von Arzneimittelverträgen auf Landesebene oder zu Modellen Integrierter Versorgung geschaffen. Doch auch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) führt inzwischen zu einer unterschiedlichen Verordnungspraxis von onkologischen Arzneimitteln in den einzelnen Bundesländern.

Wir haben uns diesem Thema in unserem Brennpunkt Onkologie am 20. April 2016 in seinen unterschiedlichen Facetten aus der Perspektive von Betroffenen, Politik und Krankenkassen genähert und uns unterschiedliche Beispiele aus der Versorgung onkologischer Patienten angesehen. Wir haben mit den Referenten und dem Publikum diskutiert, wie wir eine gleichwertige und hochwertige Versorgung in die Fläche bringen und sicherstellen können.

 

Einführung

In seiner Einführung plädierte Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft, für eine differenzierte Betrachtung des Themas. "Aus Patientensicht kann man zu den Unterschieden in der Versorgungslandschaft sagen: Okay, wenn es so ist, dann ist es so. Dann ist es zwar eine schlechte Nachricht, aber gut, dass ich es weiß", so Dr. Bruns.

Selektives Handeln sei aber nicht grundlegend falsch. "Wenn eine kleine Gruppe von Ärzten mit einer Krankenkasse gemeinsam ein Modellprojekt startet, ist das hervorragend." Allerdings müssten erfolgreiche und richtungweisende Modellvorhaben anschließend in die Breite und vor allem in die Regelversorgung kommen – und das sei bisher selten der Fall, denn niemand habe so einen Schritt vorgedacht. "Welche Wege gibt es dafür? Darüber diskutieren wir heute an den Beispielen Integrierte Versorgung, AMNOG sowie Arzneimittelvereinbarungen auf Länderebene."

Christoph Rupprecht: „Jede Krankenkasse muss mutig nach vorn denken, um die Gesundheitsversorgung zu verbessern.“

Christoph Rupprecht

Christoph Rupprecht, Leiter Stabsbereich Gesundheitspolitik/ Gesundheitsökonomie der AOK Rheinland/Hamburg, eröffnete die Veranstaltung mit seinem Vortrag "Regionale Unterschiede: Hindernis oder Ansporn in der onkologischen Versorgung?" Die AOK Rheinland/Hamburg ist eine Ortskrankenkasse und regional aktiv. Sie habe trotz dieser Regionalität immer den Blick für Innovationen und das Ziel, diese Innovationen auch überregional auf den Weg und zum Patienten zu bringen. In vielen Projekten sei  man als Ortskrankenkasse Vorreiter, so Christoph Rupprecht. Seit 2014 gebe es beispielsweise einen Vertrag mit dem Netzwerk Genomische Medizin in der Universität Köln zum Thema molekulare Testung bei Lungenkarzinomen. Der AOK Rheinland/Hamburg sei die Bündelung diagnostischer Tests für eine systematische Identifizierung von großer Bedeutung. In Köln gebe es langjährige Erfahrungen mit der Analyse aller Mutationen – nicht nur einzelner –, eine hohe Methodenkompetenz, also Next-Generation-Sequencing, fortlaufende begleitende Evaluation, Kenntnisse und Gewährleistung neuester Therapieansätze und vor allem eine hohe Beratungskompetenz. "Uns war es deshalb wichtig, dass unsere Versicherten davon profitieren können, und wir haben daher als erste Kasse hier einen IV-Vertrag geschlossen. Andere Krankenkassen sind nachgezogen. Das ist eine gute Entwicklung. Es gibt aber genug Kassen, die keinen Vertrag mit dem Netzwerk haben. Deren Versicherte können von Erfahrungen und den Leistungen der molekularen Testung in Köln nicht profitieren. Ob solche innovativen Leistungen in die Breite kommen, ist also zurzeit auch von der einzelnen Krankenkasse abhängig. Einen direkten Anreiz für Kassen, sich zu beteiligen, gibt es nicht. Der Suchprozess durch IV-Verträge nach guten oder besten Lösungen in der Gesundheitsversorgung  von einzelnen Krankenkassen ist wichtig. Die Überführung der Erkenntnisse in die Regelversorgung sei aber ordnungspolitisch nicht zu Ende gedacht worden."

Einen anderen Weg, onkologische Innovationen in die Breite zu bringen, sieht die AOK Rheinland/Hamburg in der Zentrenbildung. Christoph Rupprecht zählt die Vorteile auf: "Konzentration der Leistung auf Kliniken mit nachgewiesener onkologischer Expertise, Qualitätssicherung, Interdisziplinarität, die reibungslose Gestaltung der Versorgung, die Integration von Psychoonkologie, von patientenorientierter Informationsvermittlung, transparente Messung und Zertifizierung von Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität, Verpflichtung zur Teilnahme an Registern, Transparenz durch klinikvergleichende Auswertung und die gute Möglichkeit für Studien. Und außerdem: Über flächendeckend etablierte Zentren kann man Innovation vernünftig ins Gesundheitssystem hineinwachsen lassen, und zwar qualitätsgesichert – und sie letztlich auch in die Regelversorgung übernehmen. Die Politik der AOK Rheinland/Hamburg ist bei den IV-Verträgen klar darauf ausgerichtet, letztlich die Regelversorgung zu erneuern."

Ulla Ohlms: "Wer eine Krebsdiagnose bekommt, sollte sich in einem spezialisierten Organzentrum behandeln lassen."

Ulla Ohlms
Quelle: ro-b.com/Photography

Ulla Ohlms, Vorsitzende der Stiftung Path, Augsburg, sprach über die Erwartungen einer Patientin an die onkologische Versorgung. "Alle Beitragszahler haben das Recht, für das, was sie einzahlen, eine Leistung zu bekommen, die State of the Art und leitliniengerecht ist, wenn es zu einer schweren Erkrankung kommt", so Ulla Ohlms.
Zentren, die die Leistungen qualifizieren und zentrieren, seien wichtig. Jeder Erkrankte solle sich in einem spezialisierten Organkrebszentrum behandeln lassen. Zugleich sei aber auch die Erreichbarkeit dieser Zentren wichtig. Das sei bei Brustkrebszentren in Deutschland gewährleistet. Sicher würde man als Patient auch Strecken von 50, 100 oder sogar 200 Kilometer zu einem spezialisierten Zentrum fahren. Und je existenzieller die Diagnose ist, desto größer sei die Bereitschaft, noch weitere Strecken in Kauf zu nehmen. Das gelte allerdings für ein singuläres Ereignis. Für regelmäßige Therapieschritte sei das aber kaum machbar. "Es geht also nicht, dass eine bestimmte Behandlung, die vielleicht sogar über das Überleben entscheidet, nur an einem Ort in der Bundesrepublik angeboten wird, sobald sie aus dem Experimentierstadium heraus ist. Das muss in die Fläche und in die Regelversorgung, und zwar qualitätsgesichert in spezialisierten Zentren. Hier kommt dann schnell vernetztes Wissen zusammen, so dass man dann auch relativ schnell sagen kann: Diese Strategie ist die richtige oder ist die falsche."
Gerade weil Versorgungsunterschiede dem Gesundheitssystem immanent seien, komme man als Betroffener um ein Selbstmanagement nicht herum, so Ulla Ohlms. Und dabei müsse dem Betroffenen und seinen Angehörigen geholfen werden: Es müsse erkennbar sein, welche Therapie mit welcher Qualität in welcher Klinik angeboten werde.

Julian Witte: "Nutzenbewertungsinformationen kommen noch nicht eins zu eins in der Versorgung an."

Julian Witte
Quelle: ro-b.com/Photography

Julian Witte, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, sprach zum Thema "Das AMNOG in der Versorgungspraxis". Auf Datenbasis des AMNOG-Reports für die DAK-Gesundheit stellte er den Forschungsprozess seines Fachbereichs zur frühen Nutzenbewertung vor. Es bestehe ein Unterschied zwischen dem AMNOG-Beschluss auf Bundesebene über einen Zusatznutzen – Stichwort: Durchschnittsbetrachtung – und der Situation eines Niedergelassenen – Stichwort: Einzelfallbetrachtung. Der Niedergelassene bewerte neue Medikamente im Hinblick auf Wirtschaftlichkeit, Zweckmäßigkeit und andere Aspekte immer auf Basis des therapeutischen Bildes des Patienten. Dieses Vorgehen steuere die Versorgung und Verordnung neuer Arzneimittel, sei aber auch nur ein Aspekt von vielen. Ein anderer sei, dass Ärzte sich bei ihrer Entscheidung – so die Evidenz - stark auf Leitlinien stützten, in denen neue Arzneimittel in der Regel noch gar nicht erfasst seien. Zudem gebe es unterschiedliche Einschätzungen von Wirkstoffen durch verschiedene Institutionen oder Fachgesellschaften bei neuen Arzneimitteln. Für den Arzt sei es also ein schwieriges und konfliktträchtiges Feld, sich zwischen verschiedenen Zusatznutzenergebnissen, Beleglagen, Mischpreisen, Zeitpunkten der Verordnung, eigenen therapeutischen Erfahrungen, Leitlinien und Einschätzungen von Fachgesellschaften oder kassenärztlichen Vereinigungen zu orientieren. Zudem fühlten sich Ärzte durch die frühe Nutzenbewertung nicht von Regressangst befreit. Es finde, so Julian Witte, also keine Verordnung statt, die von Kostenentscheidungen und -überlegungen losgelöst sei. Nicht zuletzt seien die Dokumente von G-BA und IQWiG über die frühe Nutzenbewertung schon allein wegen ihres Umfangs für die tägliche Versorgungspraxis nicht geeignet – nur ca. 11 Prozent der Ärzte würden diese Dokumente überhaupt kennen, obwohl ca. 80 Prozent sagen, sie fänden es relevant, über den Zusatznutzen Bescheid zu wissen. Nutzenbewertungsinformationen sollten also besser in die Praxissoftware integriert werden, damit sie verordnungssynchron vorlägen, so Julian Witte. Auch an anderer Stelle müsse weiter geforscht werden. Spannend sei beispielsweise die Frage, welche Rolle Kliniken bzw. Zentren als Impulsgeber in der onkologischen Versorgung spielen würden. Außerdem sei es dringend erforderlich, so Julian Witte, das Thema Kosten-Nutzen-Bewertung einzubringen. "Es ist wichtig, gesundheitsökonomische Evidenz gerade Richtung Kosten aufzusetzen. Was sparen neue Arzneimittel, die erstmal mehr kosten, in anderen Leistungsbereichen? Vermeiden wir damit Krankenhausaufenthalte, Pflegekosten, Berufsausfall? Das ist doch die eigentliche Frage, die jeder beantwortet haben will. Wir wissen, dass es auf Einzelkassenebene eine Nachfrage nach neuen Arzneimitteln gab, die vom Markt genommen wurden, weil es auf Spitzenverbandsebene keine konsensfähige Preislösung gab."

Dr. Jochen Heymanns: "AMNOG ist ein Instrument, das eine Hürde zu werden droht."

Dr. Jochen Heymanns
Quelle: ro-b.com/Photography

Dr. Jochen Heymanns, niedergelassener Onkologe aus Koblenz und Vorstandsmitglied im Berufsverband der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen in Deutschland, sprach zum Thema "Arzneimittelvereinbarungen auf Länderebene". Die onkologische Versorgung in Deutschland sei im internationalen Vergleich hervorragend – auch wegen der Versorgung durch Schwerpunktpraxen, so Dr. Heymanns. Sie sicherten einen niederschwelligen Zugang zum qualifizierten Facharzt, geringe Wartezeiten, keine Zweiklassenmedizin und den Zugang zu Innovation für jeden Patienten. Niedergelassene Hämatologen/Onkologen seien Träger der Routineversorgung in einem relevanten Umfang – und damit ein wesentlicher Faktor einer flächendeckenden Krebsversorgung. "Wir fühlen uns verpflichtet, auch Sorge dafür zu tragen, dass der Zugang zu innovativen Therapiemöglichkeiten in der Fläche funktioniert", so Dr. Heymanns. "AMNOG ist dabei ein Instrument, das aufgrund regionaler Arzneimittelverordnungen eine Hürde zu werden droht." Von der Gesetzgebung sei AMNOG ausschließlich als ein Instrument der Preisgestaltung für neu zugelassene Arzneimittel etabliert worden. Wie dieses Instrument auf andere Bereiche übertragen werde, zeige beispielsweise die Arzneimittelvereinbarung zwischen Kassenärztlicher Vereinigung und den Verbänden der Krankenkassen in Bayern. Darin heißt es: Arzneimittel, bei denen der G-BA einen Zusatznutzen festgestellt hat, sollen grundsätzlich nur in den Anwendungsgebieten mit Zusatznutzen verordnet werden. Hier werde versucht, durch Druck auf die Ärzte eine Kostendämpfung voranzutreiben, und es drohe eine Einschränkung der Therapiefreiheit, so Dr. Heymanns. Ein Arzt sei zuerst seinem Patienten verpflichtet, und der Einsatz eines Medikaments sei dabei eine rein medizinisch-fachliche Frage. Darüber hinaus habe der Patient einen sozialgesetzlich definierten Anspruch auf eine Behandlung, die den medizinischen Fortschritt berücksichtigt. Es sei problematisch,  dass das mit einer Arzneimittelverordnung wie in Bayern unterlaufen werde, so Dr. Heymanns. "Es fehlt ein klar fundiertes und transparentes Regelwerk, welche konkreten Auswirkungen die Nutzenbewertungen durch das IQWiG oder die Beschlüsse des G-BA im Rahmen des AMNOG auf die Arzneimittelverordnungen der Vertragsärzte haben sollen."

Podiumsdiskussion

Podiumsdiskussion
Quelle: ro-b.com/Photography

In der abschließenden Podiumsdiskussion stand die Frage im Mittelpunkt, wie regional begrenzte Innovationen in die Fläche kommen. IV-Verträge seien derzeit das einzige Instrument dafür – in der Regelversorgung sei eine Innovation dann aber noch lange nicht. Denkbar sei ein System von etwa 20 Zentren, die sich mit solchen Übergangsfragen auseinandersetzen, also translationale neutrale Zentren. Sie würde innovative Projekte für Patienten nicht nur regional in Hamburg anbieten und nicht nur für eine bestimmte Kasse, sondern in ganz Deutschland, und zwar in Kooperation mit den niedergelassenen Ärzten. In diesen Zentren könnten Erkenntnisse gesammelt werden – qualitätsgesichert, vernetzt und transparent evaluiert bzw. veröffentlicht. Und auf Basis dieser Erkenntnisse könnten entschieden werden: Soll die Innovation in die Regelversorgung oder nicht? Das wären Modellprojekte, die vielleicht erst zu 90 Prozent reif für die Regelversorgung seien. Aber das Gesundheitssystem könnte sich bei diesem Ansatz auch an der finalen Entwicklung beteiligen.

Referenten

Dr. Johannes Bruns (Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft, Berlin); Dr. Jochen Heymanns (Vorstandsmitglied im Berufsverband der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen in Deutschland, Koblenz); Ulla Ohlms (Vorsitzende der Stiftung Path, Augsburg); Christoph Rupprecht (Leiter Stabsbereich Gesundheitspolitik/Gesundheitsökonomie der AOK Rheinland/Hamburg); Julian Witte (wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld); Moderation: Thomas Hegemann